Liebe Szene, wir müssen reden!
Als Personen, die sich nun schon seit Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen mit dem Thema Knast und der Unterstützung von Gefangenen auseinandersetzten ist uns eines aufgefallen: Die hauptsächliche Care–Arbeit in diesem Themenbereich wird überwiegend von Frauen, inter, nicht–binären, trans und agender Personen übernommen.
Wenn wir uns die Zusammensetzung, sowohl von Unterstützungsgruppen für konkrete Verfahren und Gefangene, als auch die von Gruppen, die zum Thema Knast selbst arbeiten, anschauen, sehen wir ein Ungleichgewicht.
Um patriarchale Muster ernsthaft zu durchbrechen, müssen wir belastbare und nachhaltige Strukturen aufbauen, in denen nicht immer wieder Frauen, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen ausbrennen.
Perspektive von drinnen
Das Ungleichgewicht in der Antirepressionsarbeit ist nicht nur uns aufgefallen – so schreibt der ehemalige Langzeitgefangene Thomas Meyer-Falk (Anmerkung: zu der Zeit war Thomas noch inhaftiert):
„Sorgearbeit kommt im menschlichen Leben eine zentrale Rolle zu, damit auch in der Anti-Knast-Szene, wo meist eingesperrte Männer / männlich gelesene Personen (rund 95 % der gefangenen Menschen) von der Sorgearbeit der in Freiheit befindlichen Frauen / weiblich gelesenen Personen (im Weiteren schreibe ich von Frauen bzw. Männern) profitieren – sei es im innersten familiären Umfeld, einschließlich von Freundinnen und Freunden, aber auch in solidarischen Strukturen.
Im Regelfall sind es Frauen, die Briefe schreiben, Besuche organisieren und durchführen, Pakete packen und das so wichtige Band zwischen „draußen“ und „drinnen“ knüpfen und aufrechterhalten.
Die Forderung, Sorgearbeit vom Geschlecht zu entkoppeln und als relevante politische Praxis zu verstehen, ist Jahrzehnte alt und nur in kleinen Schritten scheint es zu Veränderungen zu kommen, selbst in Kreisen, die sich selbst als aufgeklärt und als fortschrittlich verstehen.
Aus eigenem Erleben, nach rund 27 Jahren ununterbrochener Inhaftierung, kann ich berichten, dass die zuverlässigsten und langjährigsten Wegbegleiterinnen eben das waren: Begleiterinnen! D.h., Frauen. Eher selten, dass sich ein Mann meldete, noch seltener, dass er dann über Jahre oder Jahrzehnte aktiv eingebunden war.
Als Gefangener bleibt mir in einem ersten Schritt nur, dieses Faktum zu konstatieren. Im nächsten Schritt kann ich versuchen, es zu hinterfragen und kritisch zu reflektieren.
Alles benötigt Sorge. Jeder sorgt, für sich selbst wie auch für andere. Für die soziale Gemeinschaft, in welcher mensch sich eingebunden vorfindet oder die er selbst gewählt hat, für die Umwelt, andere Lebewesen und für noch viel mehr. In dieser Abstraktion ist Sorge erst einmal unabhängig vom Geschlecht. In der gelebten Praxis sind es dann immer noch überwiegend Frauen, die die Sorge-Arbeit in Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, Pflegeheimen, Altenheimen, bis hin die Arbeit für und mit Gefangene ausüben.
Als elementar von der Unterstützung durch Menschen von vor den Gefängnismauern Abhängige, stützen sich Gefangene auf jeden, die ihre Hilfe anbieten, ohne diese daraufhin zu befragen, inwieweit sie konventionellen Mustern der Geschlechter-Arbeitsteilung folgen.
Achtsame Zuwendung scheint für viele Männer im 21. Jahrhundert, auch und gerade in linken Zusammenhängen, die vielfach von Mackertum geprägt zu sein scheinen, eine unvertraute Handlungsanleitung. Sie wird delegiert – an Frauen.
Gerechte Arbeitsteilung wie soziale Gleichheit erfordern jedoch eine ebensolche Aufteilung im Bereich von Care-Arbeit in linken Strukturen und damit auch der Anti-Knast-Arbeit: eine Übernahme von Betreeung und Begleitung, eine „Gekümmere“ paritätisch durch Männer, eben keine Delegation dieser Bereiche an Frauen.
Die traditionelle Arbeitspraxis zu kritisieren und dann zu verändern, wo sollte dieses seinen Ort haben, wenn nicht hier, in linken, emanzipatorischen Kreisen? Das Veränderungspotenzial erscheint mir selbst von meiner Zelle aus gesehen sehr groß.
Realistischerweise dürfte ein solcher Prozess in sehr kleinen Schritten vor sich gehen. Ein Aspekt dürfte unsere Mitwirkung als Gefangene sein, die nicht deutlich für einen solchen Veränderungsprozess eintreten und unsere Stimme erheben.
Hier ist der nun begonnene Diskussions- und Auseinandersetzungsprozess ein erster, kleiner Schritt in eine andere, eine geschlechtergerechtere Zukunft.“
Rolle der Angehörigen
Als angehörige Frauen, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen stehen wir häufig einer Szene gegenüber, die unsere (Für–)Sorge als emotionalen Ballast abtut und kleinredet. Anstatt ernst genommen zu werden, werden viele belächelt und in der politischen Arbeit kritisiert, weil sie für zu emotional gehalten werden. Wir zitieren aus einer Rede vom 05.05.24 an der Frauenanstalt in Chemnitz:
„Manche von uns Mitbetroffenen ergreift ein starker Trieb zur Sorge – Alles was in irgendeiner Form getan werden kann, muss getan werden. Das kann schonmal irrational werden und Umstehende, die weniger emotional an die Gefangenschaft herangehen, kritisieren uns in der Zusammenarbeit. Und das oftmals, während sie selbst weit weniger Kapazitäten investieren, um für unsere Gefangene da zu sein.
[…]
Es ist es eher so, dass Antirepressionsarbeit und persönliche Betreuung keine beliebten Aufgaben sind. Und auch weit weniger gewürdigt werden als sichtbare Arbeit, wie für politische Auswirkung, eine Lohnarbeit oder etwa eine politische Straftat, die zur Haft führt, selbst.
Also sind sie leicht vergleichbar mit der Fürsorgearbeit die generell in der Gesellschaft nicht gewürdigt und nicht entlohnt wird.
[…]
„Als Feminist*innen in der Antiknastarbeit, werden wir immer mit dem Zwiespalt klarkommen müssen, unsere Energie an inhaftierte Männer zu senden.
Uns wird beigebracht Wertschätzung und Anerkennung über Männer zu spüren und das macht uns empfänglich fürs sie zu arbeiten und legt einen Grundstein für unsere Ausbeutung.
Doch an sich – unsere Weiblichkeit, die uns zur Fürsorge leitet, ist keine Schwäche – sie macht uns stark – uns selbst und die unsrigen.
Lasst uns für emotionale Unterstützung Wertschätzung und Sichtbarkeit erkämpfen!
Denn sie ist so notwendig!
Wir müssen vorbereitet sein, unsere Solidarität auszuweiten, von unserem anerzogenen Bezug zu Männern hin zu einer Schwesterlichkeit in der unser Fokus auf anderen FLINTA* Personen liegt.
Stärken wir uns gegenseitig in unserem Kampf gegen dieses Knastsystem.
Denn wir geben den Gefangenen Kraft, Zuversicht und die Gewissheit, dass sie nicht vergessen werden.“
Unser Appell
Dieser Text ist eine klare Handlungsaufforderung an cis-Männer in unseren Kreisen:
Reflektiert männliche Verhaltensmuster, lasst Emotionen zu und setzt euch mit der Wut und Trauer eurer Mitstreiter*innen auseinander, anstatt sie abzuwehren oder davor wegzurennen!
Zeigt Wertschätzung und Anerkennung für Fürsorgearbeit – sie ist das, was unsere Gefangenen und Repressionsfälle durch schwere Zeiten trägt.
Überlegt gemeinsam, ob und wie ihr mehr (unsichtbare) Care-Arbeit übernehmen könnt.
Seid ehrlich, kritisch und fordernd, wenn ihr sexistische Arbeitsteilung mitbekommt – als Unterstützungsumfeld, aber auch als Gefangene.
Lassen wir nicht zu, dass die anhaltenden und kommenden Krisensituationen patriarchale Zustände zementieren!
Freiheit für alle.